Mormonen am Main

Welche Rolle spielt Religion in deinem Leben?
Mit dieser Frage wurdet ihr vielleicht auch schon das ein oder andere Mal auf der Straße konfrontiert. Gestellt wird sie von den Missionaren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, welche meist in dunklen Anzügen mit weißem Hemd, manchmal sogar mit einem Schlipps, auf jeden fall jedoch mit einem massiven Rucksack bepackt durch die Straßen ziehen.

Schon seit mehreren Jahren sorgt das imposante Kirchengebäude in der Arthur-Zitscher -Straße für Aufsehen und schürt dabei Vorurteile, denn die Glaubensgemeinschaft wird hierzulande von vielen als Sekte gewertet. Ohne dass man sich erklären kann, woher einem diese Gedanken kommen: extreme religiöse Hingabe, Polygamie, Gehirnwäsche – es passiert schnell, dass man sie damit in Verbindung bringt.
Aber wer sind die Mormonen wirklich?! Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, haben wir den Dialog gesucht. Die Mormonen haben ihr Bestes dazu beigesteuert, uns ein Bild von ihrem Gemeindeleben und ihrem Glauben zu geben. Und das geht am besten bei einer Kirchenführung.

Im bekannten Chic empfangen uns Elder Lewis und Elder Wolz (Elder ist die Bezeichnung für einen Missionar), die beide für 2 jahre aus ihrer Heimat in den USA nach Deutschland gekommen sind, um den Offenbachern ihren Glauben näher zu bringen. 10.000$ kostet es, diesen spirituellen Dienst antreten zu können. Der Betrag deckt die Kosten für Wohnung und Verpflegung in der Zeit ihres Aufenthalts. Elder Lewis ist 22 Jahre alt, spricht sehr gutes Deutsch und hat eine Vorliebe für Mathematik. Er wirkt nachdenklich, wählt jeden Satz mit Bedacht. Elder Wolz ist ein Jahr jünger und der Schüchternere. Die beiden sind mehr als ein Team. Sie machen nicht nur ihre Missionsarbeit zusammen, sondern teilen auch eine gemeinsame Wohnung. We are attached to the hip, meint Elder Wolz.
Noch in der Eingangshalle, wo wir einen Moment auf Bruder Schulz warten, welcher sich unserer Führung anschließen möchte, ensteht eine Diskussion. Von 0 auf 100. Zu groß ist unsere Neugier, zu viele Fragen rund um Visionen, Prophezeiungen und Verbote im Mormonentum brennen uns auf der Zunge. Gerade als wir eine hitzige Debatte über Tee gestartet haben, welcher zusammen mit Alkohol und anderen Drogen verboten ist, da er zu den psychotropen Substanzen zählt, stößt besagter Bruder Schulz zu uns. Er hat sich extra Zeit genommen, um uns als „gewöhnliches Gemeindemitglied“ einen persönlichen Eindruck zu vermitteln. Genau wie den beiden Missionaren, wurde auch ihm das Mormonentum in die Wiege gelegt. Noch bevor wir uns seiner Herkunft aber bewusst sind, hat er schon das Wort ergriffen, rezitiert Verse aus dem Buch Mormon, das von Elder Lewis hilfreicherweise aus dem Rucksack gezaubert wird (Dafür ist das schwere Gepäck also gut!). Von der Sinnhaftigkeit des Entsagens verschiedener Genussmittel ist der gläubige Bruder genauso überzeugt, wie von der Tatsache, dass der Mormonenpräsident ein Prophet ist und als Sprachrohr Gottes fungiert. In dieser Position befindet sich derzeit Thomas S. Monson, der übrigens gerade auf große Deutschlandtour geht (am 14.10. ist er in der Jahrhunderthalle in Frankfurt).

Unsere Diskussion wird verworrener, die Argumente von beiden Seiten länger gezogen. Der junge Elder Lewis greift ein, indem er sich zunächst vielfach dafür bedankt, dass wir überhaupt gekommen sind und ihren Ausführungen so achtsam folgen. Gleich im Anschluss hat er aber auch schon eine Bitte: Ein gemeinsames Gebet. WIr empfinden dieses Anliegen etwas unangenehm. Unser Höflichkeitsempfinden siegt, wir falten die Hände und richten den Blick nach unten. Auch wenn Elder Lewis in der folgenden Andacht für die Gelegenheit dankt, mit uns zu sprechen und Eingebungen für uns -die Gäste- erbittet, weicht das seltsame Gefühl in uns nicht wirklich.

Die Herren verdeutlichen Kompetenz mit dem sicheren Wissen über Bibelstellen und das Anbringen historischer Belege dafür, dass Jesus nach seiner Auferstehung in Amerika wirkte. Trotzdem haben die Argumente einen vorgefertigten Touch. Ein bisschen auswendig gelernt kommt es einem vor, ähnlich wie wenn man den Namen der Kirche voll ausspricht. (sprich: Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage). Das impliziert allerdings nicht, dass die Jungs selbst unauthentisch wirken – im Gegenteil: Immer wieder berichten die Anwesenden von persönlichen Erfahrungen, die sie vom Glauben überzeugten und versuchen so, auch in uns ebensolche Leidenschaft zu wecken.

Nachdem wir über eine halbe Stunde in der Eingangashalle gestanden, uns bereits tief in die Lehre der Mormonen eingearbeitet haben, beginnen wir nun die eigentliche Tour.
Über lange, neutral gehaltene Flure mit Ölgemälden an der Wand, gelangt man in die unterschiedlichen Räumlichkeiten, welche ausnahmslos durchnummeriert und mit Türschildern versehen sind. Mit der Zeit haben wir das Gefühl, uns eher in einem Amtsgebäude, als in einem Gotteshaus zu befinden.
Hinter der ersten Tür, auf dem Türschild steht zweisprachig Mehrzweckraum,  wartet auch schon eine ziemliche Überraschung auf uns. Eine Sporthalle mit einem Basketball Halbfeld in Originalgröße lacht uns entgegen. „Ja, das ist warscheinlich die einzige Kirche in Offenbach, in der man Basketball spielen kann“, meint Elder Lewis abgeklärt und wir staunen nicht schlecht. Dann geht es weiter, vorbei an Klassenräumen, in denen Kinder beispielsweise in Englisch unterrichtet werden. Heute sind jedoch nur 2 von ihnen da und sie spielen lieber verstecken. Wir schauen uns die Ölgemälde im  Flur genauer an. Zu sehen sind oft Szenen aus der Bibel bzw. dem Buch Mormon. Auch das Porträt Joseph Smiths fehlt selbstverständlich nicht. Uns fällt ein Trinkwasserspender auf. Typisch amerikanisch denken wir und gelangen sodann in eine Art Seminarraum. Hier werden die Gruppenstunden nach dem Gottesdienst abgehalten. Bruder Schulz erklärt uns, dies geschehe getrennt nach Geschlecht. Auf unsere Frage nach dem Warum, erläutert er, dass Männer und Frauen schließlich unterschiedliche Themen zu besprechen hätten und dass er beispielsweise kein Interesse am Häckeln hege.

Die Äußerung gewinnt eine Note von Chauvinismus, als in diesem Moment zwei weibliche Missionare den Raum betreten. Statt „Elder“, tragen sie auf ihren Namensschildern den Zusatz „Sister“, als Bezeichnung ihrer Funktion. Es fällt genauso auf, dass beide knielange Röcke tragen. Die beiden jungen Frauen stellen sich nur vor, sind gleich darauf wieder verschwunden. Das Interesse an der Beziehung zwischen Frau und Mann in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bleibt aber. Daher wenden wir uns einem der heikelsten Themen zu, die uns im Kopf schwirren: der Polygamie. Als wir das ansprechen, lächeln die Herren, fast als hätten sie erwartet, darauf angesprochen zu werden. Die Ehe sei heilig, Polygamie spiele auf keinen Fall eine Rolle im Leben der Gläubigen. Vielmehr handele es sich dabei um Gerüchte. Bruder Schulz gibt an, sich dem Thema ergiebig gewidmet zu haben.  Er versichert uns, dass Joseph Smith, auf keinen Fall Vielweiberei betrieben hat. Im Gegensatz dazu wird Keuschheit sehr hochgehalten. Im Rahmen einer ehelichen Verbindung sei Sex zwar erlaubt, bis man allerdings einen festen Lebenspartner habe, sei ein „Aufsparen“ unabdingbar. Wir stutzen etwas, haben wir schließlich zwei junge Männer Anfang zwanzig in unserer Runde. Elder Lewis berichtet in diesem Zusammenhang, dass er bereits ein Auge auf eine Frau in den Staaten geworfen hat. Er plant, ihr nach seiner baldigen Rückkehr einen Heiratsantrag zu machen. Zur Zeit haben sie eine weder eine partnerschaftliche Beziehung zueinander noch stehen sie in Kontakt, doch der junge Missionar ist sich seiner Pläne  sicher. Die junge Frau weiß noch nichts von ihrem Glück.

Als wir durch den Westflügel der Kirche streifen, vorbei an dem großen Taufbecken, welches durch eine große Fensterscheibe die direkte Sicht auf den Einkaufsmarkt Penny ermöglicht, verharren wir bei dem Thema Privatleben. Das scheint in der Missionsarbeit eher kurz zu kommen. So können zumindest die beiden jungen Amerikaner nicht wirklich viel berichten, als wir ihre Freizeit zu sprechen kommen. Sie haben einen Tag in der Woche, der es ihnen ermöglicht Lebensmittel einzukaufen, den Haushalt zu erledigen und Emails an die Familie zu schreiben. Von Hobbies erzählen sie nichts. Wir bohren weiter nach. Welche Leidenschaften sie haben, wollen wir wissen. Elder Wolz scheint überfordert mit der Frage, er seufzt ratlos. Wir wollen den Zugang zum Thema erleichtern, fragen nach ihren Vornamen. Jesse alias Elder Lewis schildert seine Passion für Sport wie Basketball und Football. Er wird etwas lockerer und gibt sogar Preis, dass er ein Ballspiel namens Spoo (Oops backwards) selbst erfunden hat. Leider können wir das Game nicht testen, es fehlt an einem übergroßen Gymnastikball, den die Regeln erforderlich machen. Elder Wolz ist in seiner bekannten Zurückhaltung zaghaft mit seinen Leidenschaften. Videospiele hat er früher gern gespielt und Soft Air. Er trägt den Namen Blain, was wir ziemlich lässig finden. Das amüsante Gespräch führen wir in der Kapelle, deren Sitzauflagen aus demselben Stoff sind wie der Teppichboden. Anders als im Rest der Kirche befinden sich hier keine Bilder, kein Kreuz und keine Statuen. Nur zwei Uhren. Die Gemeindemitglieder sollen ihre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche, die Worte des Bischofs richten.

Bruder Schulz bricht so plötzlich auf, wie er gekommen ist. Die Unterhaltung neigt sich dem Ende zu. Wir sind geschafft, die Missionare auch, genau wie ihr, wenn ihr mit dem Lesen dieses Artikels tatsächlich bis hierhin gekommen seid.Zum Abschied schütteln wir uns die Hände, sprechen Dank aus und bekommen noch ein kleines Geschenk mit auf den Weg: das Buch Mormon, versehen mit einer persönlichen Widmung.
Für Jesse und Blain ist der Tag aber noch nicht vorbei. Die Mission geht weiter…